Artikel aus "Die Welt" vom 30.4.2015

Der lange Weg auf die große Opernbühne

"Vertraut man groben Schätzungen, dann haben deutsche Musiktheater einen jährlichen Nachwuchsbedarf von 160 Sängern. Dem gegenüber stehen rund 300 in deutschsprachigen Musikhochschulen und Konservatorien ausgebildete Absolventen. Von diesen finden nur zehn Prozent dauerhaft einen Arbeitsplatz. "Mit den ausländischen Mitbewerbern sind es wohl eher 3000 Künstler, die miteinander konkurrieren", ergänzt Christoph Seuferle, Direktor der Deutschen Oper Berlin."

 

Das ist erschreckend. Liegt es am Mangel an Talenten, die die Musikhochschulen besuchen? Nein, sicher nicht. Von etwa 150 bis 250 Bewerbern werden weniger als 10% an diesen Musikinstutionen aufgenommen. Und Talente gibt es unter den Bewerbern sehr viele. Das Problem ist aber, es hapert an der Ausbildung selbst! Ich möchte behaupten, über 90% der Gesangsstudenten wird eine falsche Gesangstechnik vermittelt!

Mir ist bewusst, dies ist eine sehr deutliche Aussage. Und es sollte auch erwähnt werden, dass der Gesangsschüler an diesen Institutionen vieles lernt und auch im Gesang meist ein gewisses hörbares Vorankommen erst einmal hat. Aber im Kern bei der Gesangstechnik ist es nicht das Richtige, ja, meist sogar das Falsche.

Ist das übertrieben?

Dann sollte man sich einmal die Fragen stellen:

Warum können Frauenstimmen kaum ein edles Forte erzeugen?

Warum klingt es oft so scharf und schepprig-hässlich, siehe viele Wagnersängerinnen in ihrem Fortegesang! (Das Publikum hat sich meist schon daran gewöhnt).

Warum können ausgebildete Sänger kaum mit der Dynamik (Forte-Piano) spielen?

Warum hört man kaum edle Höhen?

Warum haben die Sänger solche Probleme mit den Tiefen?
Es gibt kaum noch echte Altistinnen!

Warum versteht man bei vielen Sängern, besonders in höheren Tonlagen, kaum den Text?

Warum singen Frauen meist mit dem einseitigen Mittelstimmregister?

Und warum haben Frauenstimmen in der Tiefe einen Bruch zum Brustregister?

Das sind alles Fragen, die man sich stellen sollte. Denn es sind alles studierte und ausgebildete Stimmen.

Was ist die Alternative?

Worin unterscheidet sich diese Gesangstechnik von einer herkömmlichen?

Wenn man heute beginnt, Gesang zu erlernen, trifft man häufig auf Anleitungen, die etwas rein Äußerliches beschreiben, z.B die willentliche Anleitung der Kehlöffnung, ("heiße Kartoffel", "Gähnen"), in den „Maskenklang“ gehen, die Atmung regulieren und trainieren, das Zwerchfell über die Kontraktion der Bauch- bzw. Flankenmuskeln packen und vieles andere mehr. Hierdurch wird das innere Gleichgewicht massiv gestört.
Normalerweise folgt der Ursache die Wirkung, nicht umgekehrt, aber in der Gesangspädagogik scheint man das weitestgehend vergessen zu haben. Keiner käme auf die Idee, einem Hund zu befehlen, seinen Schwanz zu bewegen, um bei dem Tier ein Gefühl der Freude hervorzurufen - das hieße das Pferd von hinten aufzäumen. Als Vorbild dient mir die Lautäußerung eines Babys, bei dem Atemführung und Resonanzentwicklung vorbildlich harmonieren. Man kann sich denken, dass dieses Zustandekommen der Töne bei Babys nicht über das Bewusstsein geschieht, ebenso wie in der Regel jede Gefühlsäußerung bei Kindern oder Erwachsenen reflexhaft geschieht, wie z.B. ein Seufzen, ein Aufschreien, ein Lachen. Auch da ist der technische Ablauf stimmig.
Was im Gesang technisch wirklich von Relevanz ist und ursächlich vor sich geht, läuft innerlich ab, ausgelöst von einem Gefühl oder Gefühlsimpuls. Das Ergebnis beispielsweise des idealen Atems geschieht dann über den Tonansatz reflektorisch, nicht willentlich. Man muss also dem Lernenden die ursächlichen inneren Abläufe näherbringen, die im Außen, im Ergebnis, auf natürliche Weise Entsprechendes bewirken und entstehen lassen.
Dies kann man verwirklichen, wenn man erstens die inneren Zusammenhänge kennt und zweitens die Fähigkeit zur Nachahmung aktiviert. Dann können innere physiologische Funktionen Schritt für Schritt aufgebaut und beigebracht werden.
Technisch korrektes Singen läuft hauptsächlich reflektorisch ab, erst dann können Gefühle direkt in den Ton umgesetzt werden. In der Analytik scheint dies erst einmal ein komplizierter Vorgang und Zusammenhang zu sein. In der Praxis ist es jedoch gut zu verwirklichen. Das Resultat ist dann ein Einfaches. -

Im Gegensatz zu vielen herkömmlichen Gesangstechniken, die meist mit einem Überdruck der Stimme arbeiten und bei den Frauenstimmen in der Klassik eine Mittelstimm-, Randstimmregister Mischung wählen (wenn überhaupt), werden bei "Singen aus der Mitte" über einen Unterdruck ("Inhalare la voce") die äußersten Register IMMER miteinander verbunden. Dadurch fällt der Bruch der Stimmregister weg und eine Verbrustung (= zu dicke Mischung), die meist bei einem zu hohen und schiebenden Tonansatz entsteht, weil dadurch die Mischfähigkeit fehlt, fällt ebenfalls weg. Zudem bietet sich dadurch dem Sänger nicht nur ein großer Tonumfang, sondern auch eine sehr große Palette an Farben und Dynamik.

Aber wie bei allem, was erst einmal neu ist und nicht gleich verstanden wird.......:


"Es wird aber in den Wissenschaften auch zugleich dasjenige als Eigentum angesehen,
was man auf Akademien überliefert erhalten und gelernt hat.

Kommt nun einer, der etwas Neues bringt, das mit unserm Credo, das wir seit Jahren nachbeten
und wiederum anderen überliefern, in Widerspruch steht und es wohl gar zu stürzen droht,
so regt man alle Leidenschaften gegen ihn auf und sucht ihn auf alle Weise zu unterdrücken.

Man sträubt sich dagegen, wie man nur kann; man tut, als höre man nicht, als verstünde man nicht;
man spricht darüber mit Geringschätzung, als wäre es gar nicht der Mühe wert, es nur anzusehen und zu untersuchen;
und so kann eine neue Wahrheit lange warten, bis sie sich Bahn macht."

Johann Wolfgang von Goethe